In der Corona-Pandemie dreht sich alles um „die Zahlen“. Dashboards zeigen uns minütlich aktualisierte Werte von bestätigten (d.h. getesteten) Virusträger*innen, Gestorbenen, Genesenen und Intensiv-Betreuten in den Spitälern. Jede Zahl erlaubt eine Nachhilfestunde in Statistik und ihre Fallen. Wer ist ein Coronoa-Toter? Jemand, der „an“ oder der „mit“ dem Virus gestorben ist? Werden nur jene gezählt, die im Spital sterben? Was ist mit jenen, die in Pflegeheimen oder zu Hause sterben? Die sowieso knappen Tests reichen nicht für alle. Dann doch lieber die Lebenden testen, also jene, die das Virus noch verbreiten könnten … Auch von der Gruppe der Angesteckten wissen wir nur mit Sicherheit, dass die Dunkelziffer sehr groß sein dürfte, und in den verschiedenen Ländern die Entscheidung darüber, wer mit den sehr knappen Mitteln überhaupt getestet wird, ganz unterschiedlich getroffen wird. Von der Zählung der Toten und dem Verhältnis der Gestorbenen zu den Infizierten hängt jedoch vieles ab, nämlich die Entscheidung darüber, wie gefährlich das Virus für uns Menschen ist. Und welche Maßnahmen zu ergreifen sind.

Wir rühmen uns, dass wir unsere Entscheidungen auf der Grundlage von Evidenz treffen. Ursprünglich bezeichnete Evidenz einmal das dem Augenschein nach unbezweifelbar Erkennbare. Das galt auch einen Einzelfall. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich der Evidenzbegriff sehr deutlich hin zu einem mit Statistik belegbaren Befund, dem „empirischen Nachweis“, verengt. Die „Empirie“ konzentriert sich dabei auf die statistische Analyse möglichst großer Zahlen (heute: Big Data). Die Zahlen der unterschiedlichen Dashboards über die Corona-Kennwerte variieren, zum Teil sogar erheblich. Wer nach Evidenz sucht, wird schnell verrückt in diesen Tagen. Auch, weil die „großen Zahlen“ (bislang) fehlen.

Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass auch ohne „große Zahlen“ Entscheidungen getroffen werden können. Dass die mit der Evidenz verbundene Einsicht auch durch den Gebrauch der üblichen Mittel unseres Gehirns erlangt werden können, also über Nachdenken, Diskurs und Vernunft. Nehmen wir dieses Gefühl, etwas Vernünftiges oder „das Richtige“ getan zu haben mit in die Post-Corona-Zeit. Dann werden unsere anderen Krisen wieder drängend: Klimawandel, Massenartensterben, Degradation unsere Lebensgrundlage usw. Allen jenen, die diese Entscheidungen bislang mit dem Hinweis auf die fehlende Evidenz verhindert haben, können wir nun entgegenhalten: Wenn wir darauf warten, wird ist es zu spät sein!

Heike Egner, Ida Pfeiffer Professorin an der Universität Wien und Vorstandsmitglied des Universitäts.club|Wissenschaftsverein Kärnten

14. April 2020