Widersprüche sind immanenter Teil unseres Daseins. Und im Sog der krisenhaften Widersprüchlichkeit überrascht es kaum, dass die Covid-Welle angesichts der surrealen (WC-Papier-)Hamsterei nicht bloß Abflüsse verstopfte, sondern mitunter auch Hirnwindungen.
Anders ist etwa der nicht minder surreale Einfallsreichtum der isländischen App „One“ kaum zu erklären. Sie verkuppelt Singles nicht nur auf Basis ihres Alters und Geschlechts, sondern ebenso anhand ihres Covid-19-Status‘ (infiziert und genesen, nicht infiziert, in Quarantäne). Gewissermaßen Rilkes „Herbsttag“ viral reloaded, in dem es heißt: „Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.“
In ermutigendem Gegensatz dazu bleibt so etwas wie „gebildete Hoffnung“, von der schon der Philosoph Ernst Bloch sprach. Diese Hoffnung ist kein platter Optimismus, kein naives Erwarten eines Happy End. Sie sagt, wir können auch scheitern. Sie ergründet auch das, was ist und geschieht. Sie verändert die Komfortzone zur „Komm-vor-Zone“. Sie fordert uns heraus, aktiv zu werden und das Hirn einzuschalten. Denn „Not-wendig“ heißt: In der Not müssen wir (geistig) besonders wendig sein und zu Handelnden der Krise werden.
Was höchst heilsam wäre, ist nicht bloß eine virale Herdenimmunisierung, sondern eine postvirale Massenimmunisierung – etwa gegen die Mär vom ungebremsten Mehr, Schneller, Höher, Überall und Jederzeit. Gegen das überstrapazierte Idyll des Selbstverständlichen, Normalen und allzeit Machbaren. Gegen orakelnde Futurologen oder übersichere Alphatiere, die bar jeden Selbstzweifels einer nach Sicherheit lechzenden Herde alles verkaufen, nur nichts „gebildet Hoffnungsvolles“.
Was ebenso nottäte, ist (Selbst-)Vergewisserung. Eine, die vor allem Klarheit in Bezug auf eine sozialethische Kernfrage verschafft: Wollen wir es (weiter) so, wie wir es uns (bisher) eingerichtet haben? Wenn nein: Was müsste anders sein und getan werden – für ein „gutes (postvirales) Leben“? Kollektiv wie individuell. Damit auch Covid2Go nicht weitergeht, sondern dauerhaft vorbei.
Krisen wie Corona & Co brauchen keine blauäugigen Optimisten, auch keine Pessimisten in Schockstarre, sondern Possibilisten mit klugem Möglichkeitssinn und Courage. Dabei ist Mut vor allem auch eine Tugend des Herzens. Herz heißt ja lat. cor – deshalb bedeutet Courage: Beherztheit. Eine „gebildete Hoffnung“ ist demnach auch eine beherzte Hoffnung. Eine, die uns die Augen öffnet, solange Geschäfte geschlossen haben. Und eine, die sie uns nicht wieder verschließt, wenn alle Türen wieder wie gewohnt weit offen sind.
Mag. Dr. Franz J. Schweifer, Zeitforscher & Temposoph, Stv. Vorsitzender „Verein zur Verzögerung der Zeit“
8. Juni 2020
Sehr geehrter Herr Mag. Dr. Schweifer,
wenn der Lesakt zu einem Genuss, Sprache nicht nur inhaltlich, sondern auch in ihrem Schliff zur Erfahrung wird, dann sollte auch das Erwähnung finden – um auf Ihren Beitrag, in dem Sie die gegenwärtige Realität ganzheitlich wie differenziert kritisch reflektieren und analysieren, zu antworten.
Ein prospektiver Beitrag, der sich mit Gewinn auf allen Rezeptionsebenen lesen lässt.
Mit freundlichen Grüßen
Nicole Winkler-Krämmer
Danke für Ihre so positive Resonanz. Das freut meine temposophische Zeit(forscher)Seele. FJS
Lieber Franz! Ein sehr lesenswerter Artikel!
Ich beziehe mich auf die klugen Possibilisten mit Möglichkeitssinn und Mut. Dazu ein Beispiel:
In meinem Haus hat Corona zu mehr Sensibilität, Gesprächen und solidarischem Handeln zwischen uns Oldies und zwischen alt und jung geführt. Vermutlich gab es diesen Effekt an vielen gesellschaftlichen Orten!
Wie kann dieses Mögliche nachhaltiger und umfassender werden? Meine Vermutung wäre, dass das lokale Ereignis sich globaler niederschlagen müsste und umgekehrt die globalen Einsichten auf die lokalen rückwirken. Das könnte auch den notwendigen Mut machen, den wir brauchen werden!
Danke auch an Philipp LERNER für deine ermutigende Rückmeldung. Possibilismus pur.