Die Wissenschaft lebt vom Streit und der Debatte und auch in Zeiten großer Unsicherheit wie durch COVID-19 hervorgerufen bleibt dieser Grundsatz natürlich gültig. Es ist unangenehm, dass die Wissenschaft noch keine oder zu viele augenscheinlich widersprüchliche Aussagen zu COVID-19 liefert, jedoch ist gerade die Vielfalt der Sichtweisen und Meinungen wesentlich, um die Wahrheit hinter dem komplexen Gesamtbild zu ergründen. Niemand kann – zum heutigen Zeitpunkt – für sich beanspruchen, die eine richtige Antwort auf die Frage „wann wir uns wieder ohne Masken draußen bewegen dürfen“, oder „ob keine zweite Welle von COVID-19 kommen wird“ zu kennen. Wir wissen es im Moment noch nicht und man wird erst im Nachgang der Krise in der Lage sein, das Gesamtbild klar zu erkennen und sich auf dieser Grundlage von Spekulationen zu befreien.
Entscheidend dafür ist aber, dass der Diskurs sachlich und nicht nur für die Suche nach Schuldigen im Nachgang geführt wird. Die Flut von Falschmeldungen, abstrusen Theorien über die Ursachen der Krankheit wird eher Schaden als Nutzen bringen. Die Krise aufzuarbeiten um daraus zu lernen und es zukünftig besser zu machen ist wichtig und richtig. Jedoch nur, wenn die Aufarbeitung dazu dient Lehren zu ziehen, und nicht nur zum Schrei nach Schuldigen an der Krise verkommt. Mein Eindruck ist, dass wir trotz allem in Österreich die Krise im Vergleich zu anderen Ländern sehr viel besser „umschifft“ haben, und auch der Vergleich mit Ländern, wo es scheinbar mit geringeren Einschränkungen ebenso funktioniert hat, hinkt aus meiner Sicht. Wir sind unser eigenes Land mit unseren eigenen Gegebenheiten, und ob es bei uns schlimmer, besser oder vergleichbar wie anderenorts geworden wäre, hätten wir nur auch deren Maßnahmen (und nicht unsere) umgesetzt, ist eine Was-Wäre-(gewesen)-Wenn-Frage, auf die es keine gesicherte Antwort geben kann.
COVID-19 wird uns noch eine Weile beschäftigen, sei es in Form der Wirtschaftskrise, die viele heraufziehen sehen, sei es auch in Form der Beurteilung, in welchem Ausmaß die Maßnahmen und Einschränkungen gerechtfertigt waren.
Ich würde mir jedoch wünschen, dass all jene, die im Nachgang der Krise die damals Verantwortlichen nun kritisieren, dass die Maßnahmen übertrieben oder unnötig waren, ihrerseits den Nachweis erbringen, dass sie dies auch vor der Krise mit der gleichen Sicherheit bereits wussten. Aus der Vergangenheit zu lernen ist wichtig, jemandem die Schuld daran zu geben, ist es nicht. Es ist zweifellos schwierig, einem Virus böse zu sein, der kein Gewissen und keine Intention hat, außer eben zu existieren. Umgekehrt ist es aber auch leicht, im Rückblick heute schlauer zu sein als damals. An zu viel Vorsicht sind – rein statistisch gesehen – weniger Leute gestorben als an zu viel Wagemut.
Assoc. Prof. DDipl. Ing. Dr. Stefan Rass, Institut für Angewandte Informatik, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
20. Mai 2020